[Imagine] is anti-religious, anti-nationalistic, anti-conventional, anti-capitalistic … but because it is sugar-coated, it is accepted. John Lennon
Einige von euch haben bestimmt schon davon gehört, wie man richtig Kritik gibt: Man beginnt mit etwas Positivem, erwähnt dann einen kleinen Kritikpunkt, fährt mit Lob fort ehe man die eigentliche Kritik bringt und lobt am Ende noch einmal die Arbeit oder das Verhalten des Anderen. So weit, so gut. Leider funktioniert diese Art der Kritik in der Praxis nicht.
Klar, dieses „Kritik-Sandwich“ ist besser als die unbeholfene Art mancher Kritiker, die sich nicht die Mühe machen, das Positive zu erwähnen und scheinbar zu Gunsten maximaler Effizienz nur davon sprechen, was alles schlecht ist und geändert werden muss. Ein typisches Verhalten von überforderten Eltern bzw. Chefs, die sich ständig selbstbemitleiden müssen und nicht verstehen können, warum niemand auf sie hören will. Damit Kritik aber wirklich angenommen wird, muss man sie mit Zucker überziehen. Die Zuckerschicht muss so dick sein, dass die eigentliche Aufgabe des Kritisierten nicht mehr lautet, mit der Kritik richtig umzugehen, sondern sie überhaupt noch als Kritik zu erkennen. Warum? Weil niemand von uns hören will, was er oder sie falsch gemacht hat. Nicht einmal, wenn wir vorher und nachher mit Lob überschüttet werden!
Ein Beispiel: Ich habe eine Webseite für einen Service gemacht, den wir in Zukunft anbieten wollen. Das meiste Feedback der Anderen war positiv und es gab nur ein paar Kleinigkeiten, die ich ändern sollte. Hier kommt das Problem: Wenn ich stundenlang an einem Entwurf arbeite und über jedes kleine Detail nachdenke und eine Begründung für jede Design-Entscheidung habe, kann niemand kommen und mir nach 5 Minuten Durchsicht erklären, was ich daran ändern sollte. So blöd und kindisch es auch klingen mag, wenn ich um Feedback bitte, will ich in Wahrheit gelobt werden und habe kein Interesse an Verbesserungsvorschlägen. Ich will Zucker, keine Medizin.
Ihr könnt jetzt denken, dass mir offensichtlich die nötige Reife fehlt, um mit Kritik umzugehen – das hätte ich mir jedenfalls noch vor ein paar Wochen vorgeworfen. Ich glaube aber, dass es in Wahrheit nicht die Aufgabe des Kritisierten ist, mit Kritik richtig umzugehen, sondern in der Verantwortung des Kritikers liegt, die Kritik richtig zu kommunizieren. Mit dieser Prämisse im Hinterkopf stelle ich zunächst die „alte“ Methode vor, um Kritik zu geben und zeige dann, wie ich seit einiger Zeit versuche Kritik zu geben:
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Alte Methode: Jemand bittet um Feedback. Der Kritiker beginnt mit einer wertlosen Anmerkung wie sieht gut aus … oder gefällt mir auf den ersten Blick sehr gut … und leitet mit Hilfe eines … aber … rhetorisch geschickt zu seinen Verbesserungsvorschlägen über … du solltest [dieses und jenes] ändern. Der Kritisierte bemüht sich die Kritik anzunehmen und richtig damit umzugehen, versucht aber dennoch seine Entscheidungen zu erklären und dem Kritiker klar zu machen, dass es durchaus einen Grund dafür gibt, dass die Dinge so sind wie sie sind. Der Kritiker kontert mit einem ja, schon … und greift erneut auf sein geliebtes … aber … zurück. Die Unterhaltung dauert einige Minuten und am Ende hat der Kritisierte das Gefühl, seine Arbeit würde nicht anerkannt werden und der Kritiker kann sich nur wundern, wie jemand so unreif mit Kritik umgehen kann.
Neue Methode: Jemand bittet um Feedback. Der Kritiker hält die Klappe und lässt sich die Arbeit zeigen und erklären. Bei Dingen, die der Kritiker nicht nachvollziehen kann, fragt er nach, warum eigentlich dieses oder jenes so ist, wie es ist. Der Kritisierte hat dann entweder eine Antwort parat, die dem Kritiker dabei hilft, die Entscheidung nachzuvollziehen und die Lösung zu verstehen oder erkennt, dass er sich nicht genug Gedanken über das zugrundeliegende Problem gemacht hat. Der Kritiker hinterfragt jedes noch so kleine Detail und hört sich die Gründe für sämtliche Design-Entscheidungen genau an. Der Kritisierte erkennt, dass der Kritiker sich die Zeit nimmt, jedes Detail zu verstehen und nicht im Traum auf die Idee kommen würde, irgendeine Entscheidung zu kritisieren. Beide, der Kritisierte und der Kritiker vergessen ihre Rollen und werden zu Kollegen, die das gemeinsame Ziel verfolgen, eine bessere Lösung zu entwickeln.
Die Hauptregeln meiner neuen Kritik-Methode lauten 1.) Klappe halten, 2.) zuhören und 3.) jede Entscheidung erklären lassen. Mein Ziel als Kritiker lautet, mein Gegenüber zu verstehen. Es spielt dabei keine Rolle, ob ich mit einem Kollegen über ein neues Produkt spreche, an dem er seit Wochen arbeitet oder einfach mit einem Freund über das Leben rede. Wenn ich will, dass meine Kritik oder mein Feedback ankommt, muss ich zuerst verstehen. Bevor ich mir als Kritiker nicht die Mühe mache, etwas zu verstehen, habe ich auch nicht das Recht es zu kritisieren.
Und wenn ich eine Entscheidung nicht nachvollziehen kann und wirklich einer anderen Meinung bin? Dann muss ich meine Kritik mit Zucker überziehen und hoffen, dass mein Gegenüber bemerkt hat, dass ich wirklich helfen will. Ich sage niemandem ungefragt, was er oder sie verbessern sollte – ich frage nur, warum dieses oder jenes so ist, wie es ist. Es bringt nichts wenn ich meine Meinung kurzfristig durchsetze. Es geht darum, dass langfristig jeder ein gutes Gefühl dabei hat, die anderen um ihre ehrliche Meinung zu fragen.
Nur wenn keiner Angst vor Feedback hat, können wir uns weiterentwickeln. Das Problem vieler Firmen, Freundeskreise und Familien ist nicht, dass die Leute schlecht mit Kritik umgehen können, sondern dass sich viele Leute in der Rolle des Kritikers zu wichtig nehmen und glauben, es würde wirklich jemanden geben, der sich seine Fehler aufzeigen lassen möchte.
PS: Es ist schwierig richtig Kritik zu geben – viel schwieriger, als einfach zu sagen, was geändert gehört. Dass ich mir selbst schwer damit tue, richtig Kritik zu geben, dürfte man an diesem Artikel erkennen ;)
Nächster Artikel: Usability für Web-Developer: Unterricht an der FH Salzburg
Ootmann — 22. Mai 2012
Hey schöner Artikel! Gleich mal testen: Sag mal warum bringt mich ein Klick auf „Weiterlesen“ eigentlich in die Mitte des Artikels und nicht an den Anfang?
Stefan — 23. Mai 2012
Hallo Oootmann,
wenn du auf der Startseite des Blogs auf den Titel eines Artikel klickst, dann kommst du zum Anfang dieses Artikels. Wenn du auf „weiterlesen“ klickst, dann kommst du an die Stelle im Artikel, an der du weiterlesen kannst. In diesem Fall kommst du also an den Beginn des 2. Absatzes.
Das ist eine Standard-Einstellung des WordPress-Templates und nicht groß überlegt, sondern eher „unabsichtlich“ passiert. Mal überlegen, wie sinnvoll das wirklich ist, vor allem in Anbetracht dessen, dass die Artikel jeweils so kurz angeteasert werden, dass man auch gemütlich weiterlesen könnte, wenn man immer am Anfang eines Artikels landet.
Danke für den Hinweis … und den Reality-Test meines Vorschlages ;)